Yin Yoga & Achtsamkeit (Interview von Julia Raderecht mit Markus Henning Giess)

Achtsamkeit ist seit vielen Jahren in aller Munde, aber nicht in jedem Geist. Wenn wir glücklich sind, scheint es leichter als in herausfordernden Zeiten den gegenwärtigen Moment bewusst wahr- und anzunehmen. Vielleicht gelingt es sogar auf der Yogamatte. Doch mitten im Leben gerät Achtsamkeit eher in Vergessenheit und das Unterbewusstsein nimmt den Fahrersitz für sich ein. Dabei können uns auch die herausfordernden Momente tiefer in das bewusste Erleben des gegenwärtigen Momentes führen. Wie bekommen wir also unseren Platz auf dem Fahrersitz zurück? Kann Achtsamkeit glücklich machen? Auf welchem Weg kann mit Achtsamkeit das Leid der modernen Gesellschaft aufgelöst werden? Wie hängen Achtsamkeit und Selbstverantwortung zusammen? Welches Geschenk liegt in der Verbundenheit von Yin Yoga und Achtsamkeit?

Markus Henning Giess im Interview über Yin Yoga und Achtsamkeit

Achtsamkeit ist seit vielen Jahren in aller Munde. Was bedeutet Achtsamkeit für dich?

Ja, Achtsamkeit liegt im Trend und ist unlängst im Mainstream angekommen. Für mich bedeutet Achtsamkeit, dass ich im Hier und Jetzt wirklich anwesend bin. Wach und mir der inneren Dynamik meiner Gedanken, Emotionen und Körperempfindungen bewusst bin. Für mich ist Achtsamkeit ein geistiger Zustand, den wir erlernen können z. B. indem wir uns über den Atem im gegenwärtigen Moment verankern und über den Tellerrand hinausschauen.

Was heißt in diesem Falle „Über den Tellerrand schauen“?

Buddha lehrte über das Leiden und über die Beendigung des Leidens. Heute können wir das Wort Leiden durch Stress ersetzen. Buddha erkannte, dass wir das Leben nicht so sehen wie es wirklich ist und sich dadurch leidvolles Verhalten ergibt. Als ein Daseinsmerkmal erkannte er, dass alles in diesem Universum einem ständigen Wandel unterliegt. Nichts bleibt bestehen. Gedanken und Emotionen kommen, bleiben eine Weile und gehen wieder. Physische Körper werden geboren, bleiben eine Weile und vergehen. Das ist das Gesetz der Natur. Unser Verlangen nach Beständigkeit sorgt immer wieder für leidvolle Spannungen (Stress) z. B. wenn wir krank werden, altern, sich eine Beziehung oder materieller Besitz verändert.

Wie können wir Leiden auflösen?

Wenn wir mit Achtsamkeit auf Gedanken, Emotionen und physische Zustände blicken, dann möchten wir das ohne Bewertung oder Beurteilung, ohne Anhaftung, ohne konditionierte Glaubenssätze, Werte, Verhaltensweisen, ohne unseren inneren Kritiker und ohne unser inneres Drama einzuschalten. Wir beobachten mit klarem Blick und ohne automatisch zu reagieren. In dieser Nicht-Reaktion lässt sich Ruhe und Entspannung finden. Im geduldigen und wertfreien Zuhören dürfen sich innere Spannungen immer mehr lösen.

Wonach richtest du deine spirituelle Praxis aus?

Buddha sprach von den vier Qualitäten, die sich durch einen reinen achtsamen Geist entwickeln. Wenn ich mit diesen Qualitäten verbunden bin, weiß ich für mich, dass ich auf einem guten Weg bin.

  • Metta (Freundlichkeit, Güte, bedingungslose selbstlose Liebe)

  • Karuna (Mitgefühl, Mitempfinden)

  • Mudita (Mitfreude, Ermutigung, bestärkende Zuwendung)

  • Upekkha (Gleichmut, Toleranz, verständnisvolles Abstandhalten, vergebungsvolles Hinwegschauen)

Diese vier Qualitäten werden im Buddhismus Brahmaviharas genannt. Die vier Unermesslichen sind die zu kultivierenden Geisteshaltungen gegenüber anderen und allgemein gegenüber allen Erfahrungen. Gerade in solch intensiven Zeiten, in denen wir in den letzten Jahren eingebettet waren, können sie ein wertvoller Leitfaden sein. Diese vier Zustände, Tugenden oder Einstellungen gilt es sich immer wieder bewusst zu machen und umzusetzen, in der Begegnung mit sich und anderen.

Es heißt, Achtsamkeit soll glücklich machen. Wie das?

Fahrersitz oder Beifahrer – wir haben die Wahl. Wir Menschen gehen davon aus, dass wir als ein Individuum existieren und suchen nach persönlicher Erfüllung. Dieses Gefühl des Getrenntseins nannte Buddha Unwissenheit. Diese Unwissenheit führt zu Verlangen (Ruhm, Reichtum, Lob, Anerkennung), Ablehnung (von allem was durch eigene Glaubenssätze entsteht), Stolz und Neid. Wir glauben, dass wir glücklich werden, wenn wir das bekommen, was wir begehren. Das Verlangen kann allerdings nie gestillt werden. Sobald wir das haben, was wir wollen (Beruf, Status, Besitz, Beziehung, Erfolg etc.) entsteht eine Leere in uns und wir begeben uns wieder auf die Suche nach dem nächsten Ziel, das uns vermeidlich Glück bringen soll. Außerdem entstehen Ängste, das Erreichte wieder zu verlieren und streben nach Kontrolle und Sicherheit. Diese Anhaftung und Ängste manifestieren sich in unterschiedlichen Gewändern und führen zu kontinuierlichem Stress. Das Symptom wird behandelt, die Wurzel jedoch nicht erkannt. Körperempfindungen, Gedanken und Emotionen im Jetzt tragen ihre Geschichten aus der Vergangenheit in sich. Mit der Achtsamkeits-Praxis und dem neutralen Beobachter an meiner Seite ergeben sich im Alltag immer mehr Zeiten, in denen wir vom Tun ins Sein kommen und unser Dasein einfach nur genießen, ohne sich dauerhaft getrieben zu fühlen. Wir schauen dahinter und nehmen unseren Platz auf dem Fahrersitz ein.


Welche Übung kann helfen, in die vollkommende Präsenz des Hier und Jetzt zu kommen?

Atemkonzentrationsübung: Sitze aufrecht (Schneidersitz oder auf einem Stuhl). Atme durch die Nase ein und aus. Lasse deine Achtsamkeit auf die Innenseite der Nasenflügel wandern. Beobachte das Einströmen und Ausströmen des Atems. Spüre das kühle Gefühl beim Einatmen und das warme Gefühl beim Ausatmen. Sei einfach nur da. Versuche keine intellektuelle Aufgabe daraus zu machen. Versuche weder dich noch die Übung zu beurteilen. Der Atem ist der perfekte Anker. Er ist nicht Zukunft, er ist nicht Vergangenheit, er ist immer im Hier und Jetzt. Wenn wir mit unseren Gedanken driften, dann kommen wir immer wieder zurück. Das geistige Driften, das Realisieren, dass man gedriftet ist und das achtsame Zurückführen zur Atemkonzentration ist Teil der Übung.

Seit einigen Jahren haben sich Achtsamkeit und Akzeptanz in der Behandlung chronischer Schmerzen als wichtige Aspekte erwiesen. Wie können hier positive Effekte erreicht werden?

Ein Mensch der unter chronischen Schmerzen leidet, kann damit unbewusst oder bewusst umgehen. Eine unbewusste Herangehensweise an chronische Rückenschmerzen ist mentaler Widerstand, erbittertes Klagen und sich im Hamsterrad seiner depressiven Gedanken zu verfangen. Der Mensch, der sich in Achtsamkeit übt, erinnert sich, dass alles in ständiger Veränderung ist und wird versuchen den Schmerz zu beobachten, ohne zu bewerten und ohne sich damit zu identifizieren. Er wird feststellen, dass der physische Schmerz und die Gedanken darüber zwei verschiedene Ebenen betreffen. Durch das Beobachten erfährt er, dass der Schmerz nie gleichbleibend ist und sich je nach emotionalem Zustand verändert. Der Mensch erfährt, dass der Schmerz manchmal gar nicht da ist, wenn die Aufmerksamkeit abgelenkt wurde. Dieser Mensch war ich selbst - 10 Jahre litt ich unter chronischen Rückenschmerzen und durfte die positiven Effekte der Achtsamkeit erleben und die damit einhergehende Linderung und Heilung des Schmerzes.

Wie hängen Achtsamkeit und Selbstverantwortung zusammen?

Meistens hängen Glück und Unglück nicht von äußeren Umständen ab, sondern von uns selbst. Dennoch gehen wir gerne in die Opferhaltung und geben anderen Menschen die Macht darüber, wie wir uns fühlen. Wenn wir getriggert werden oder jemand nicht mit unseren Werten konform geht, dann geraten wir in Stress. Das Unterbewusstsein sitzt mal wieder am Steuer. Je achtsamer wir sind, desto früher erkennen wir den Anflug von negativen Gedanken oder Emotionen und können Einfluss auf unsere Reaktion nehmen und somit auch von Schuldzuweisungen ablassen. So kommen wir in die Selbstverantwortung zurück.

Wie lassen sich die Prinzipien der Achtsamkeit mit der Yin Yoga Praxis verbinden?

Yin Yoga hat eine physische, emotionale, energetische und mentale Wirkung. Mit Achtsamkeit können wir allem begegnen, was sich während der Praxis zeigen mag. Auf der physischen Ebene können wir beispielsweise die Dehnung und vielleicht damit verbundene Spannungen beobachten. Auf emotionaler und mentaler Ebene können Trauer, Angst, Kritik, Wut, Freude, Langeweile und vieles mehr auftauchen. Je bewusster wir uns dieser Zustände sind, desto mehr gelangen wir zu der Einsicht, dass all diese Zustände ohne wirkliche bzw. dauerhafter Substanz sind. Dieselbe Haltung fühlt sich heute so an und kann sich einen Tag später schon wieder ganz anders anfühlen. Dieses Bewusstsein lässt sich von der Matte in den Alltag übertragen.

Nicht immer fühlen wir nach der Yogapraxis Liebe und Frieden in uns. Manchmal kommen auch verdrängte oder schwierige Gefühle ans Licht. Wie können wir mit diesem Zustand heilsam umgehen?

Sarah Powers hat einmal gesagt, dass die, die während der Yoga Praxis nur nach entspannten und friedvollen Gefühlen Ausschau halten, sich die Decke über den Kopf ziehen und nicht wirklich daran interessiert sind Yoga zu praktizieren. Yoga ist ein Weg, auf dem wir uns ungeschminkt begegnen können. Das kann auch zu unguten Gefühlen führen, vielleicht wollen wir sogar weglaufen. Diese Erfahrung zu machen und bewusst damit umzugehen, ist ein Geschenk auf dem Yogaweg.


Wie kann ich in der Yin Yoga Praxis einen stabilen Ort in mir finden, um all das einfach nur zu fühlen? Wo finde ich diesen Ort in mir? Was braucht es dafür?

Laut buddhistischer Tradition gibt es acht allgegenwärtige, universelle und nicht zu vermeidende Charakteristika des Menschen. Diese acht Dharmas kommen in vier Paare:

  • Freude - Leid

  • Gewinn - Verlust

  • Lob - Vorwurf

  • Ruhm - Verachtung

Nach den ersten vier Winden verlangen wir und die zweiten vier Winde lehnen wir ab. Da aber auch die zweiten vier Winde nicht zu vermeiden sind, gerät der Mensch in Stress. In der Yin Yoga Praxis kann sich das in Form einer Erwartungshaltung zeigen. Wir erwarten einen bestimmten physischen Zustand: Wohlgefühl und Entspanntheit. Wir erwarten einen bestimmten mentalen Zustand: Ruhe und Frieden. Wenn sich dieser Zustand nicht einstellt, dann können wir unbewusst oder bewusst reagieren. Der stabile Ort in dir ist das Gewahrsein, dass jeder Zustand okay ist und sein darf. Wir haben Zeiten, in denen es uns nicht gut geht. Wir bleiben dann achtsam und erinnern uns daran, dass die Natur in einem ständigen Wandel begriffen ist und auch diese Situation sich verändern wird.

Woran möchtest du die Menschen erinnern?

Sei offen und ohne Widerstand in der Unbeständigkeit des Lebens.

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